Der Fall Kachelmann

Freispruch 

(Leitartikel im Südkurier vom 30. Juli 2010 - immer noch aktuell am 31. Mai 2011)

 

Jörg Kachelmann hat den Deutschen einst den schönen Begriff der Blumenkohlwolken beigebracht, und er hat den einst halbamtlichen Wetterbericht in ein gefälliges Unterhaltungsformat umgegossen. Sein Leben ist dem Publikum inzwischen bekannter als das des Nachbarn. Nun ist er auf freiem Fuß – und die Öffentlichkeit ratlos. 
 


Was hat man nicht alles von ihm in den vergangenen vier Monaten, seit er am Frankfurter Flughafen festgenommen wurde, gehört: dass er ein Spiel um Lust und Macht gleich mit fünf ihm ergebenen Frauen gespielt hat, dass er Peitsche und Hundeleine zu seinen Stelldicheins mitbrachte, dass er in einem vermüllten Auto durchs Land fuhr, dass er eine Aktionärsversammlung im Knast abhalten wollte und – Auslöser des Falls, dass er eine seiner Frauen vergewaltigt haben soll. Kaum zu glauben, was alles hinter diesem netten und zauseligen Kachelmann stecken soll, dessen Gesicht zu den bekanntesten Deutschlands gehört und der zugleich ein ungemein erfolgreicher Geschäftsmann ist.

Der Fall Kachelmann hat eine Vielzahl von Facetten, die ihn so schillernd und außergewöhnlich machen – womöglich wird man die bundesrepublikanische Justizgeschichte künftig nicht mehr ohne dieses Kapitel schreiben können. Da sind zunächst einmal alle Zutaten zu einem veritablen Skandal: ein Promi, der Verdacht auf ein unerhörtes Verbrechen, sadomasochistische Sexpraktiken, ein Gutachterstreit, wirr agierende Juristen.


Doch steckt hinter diesem Stoff, aus dem Kinofilme sind, mehr. Allein die Tatsache, dass ein harmlos scheinender Wetter-Ansager wie Kachelmann offenbar fünf Geliebte gleichzeitig und ohne dass diese voneinander wussten, haben konnte, sagt viel aus über die Beziehungen zwischen Mann und Frau im Zeitalter von SMS und E-Mail. Es ist leicht geworden, sich einen virtuellen Harem zu halten. Ein Handy kann heute aus jedem Mann einen Casanova machen, Organisationsgeschick und Mobilität vorausgesetzt.

 

Kachelmann beherrschte sein System offenbar über viele Jahre. Er verstand es, jeder Geliebten zu verstehen zu geben, dass sie einzigartig sei, ohne sich wirklich auf eine festlegen zu müssen. Manch einer hat diesen Mann, der ein solches Charisma hat, bewundert – immerhin hat er Fanpost ins Gefängnis bekommen. Die Mehrzahl aber hasst ihn für sein Verhalten. Die öffentliche Meinung hatte sich schnell festgelegt und sein Verhalten als verwerflich deklariert.


Die Zahl seiner Geliebten mag ein moralisches Problem sein. Was einer von ihnen passierte oder auch nicht, ist indes ein Problem des Rechtsstaates. Denn wo hört, juristisch betrachtet, einvernehmlicher Sex auf und wo beginnt die Vergewaltigung? Erst recht, wenn sadomasochistische Praktiken im Spiel sind, die per se die Unterwerfung eines der Partner erfordern? Es gibt hier eine Zone der Unschärfe, die für einen Außenstehenden – einen Polizisten oder einen Staatsanwalt – schlechterdings nicht eindeutig zu durchdringen ist. Schätzungen gehen davon aus, dass 25 Prozent der Vergewaltigungsvorwürfe erfunden sind. Vielleicht gehört der Fall Kachelmann dazu.

 

Jedenfalls ist der Eindruck entstanden, dass die Männer und Frauen im Justizapparat an diesem Prominenten ein Exempel statuieren wollten. Womöglich weil einer wie Kachelmann ungewöhnlich erfolgreich war bei Frauen, weil er eine geniale Geschäftsidee hatte, weil er Millionen verdient? Zumindest haben die Staatsanwälte nie genau beantwortet, warum sie die widersprechenden Gutachten als das genommen haben, was sie sind: Dokumente des Zweifels. Noch immer heißt ein hehrer Spruch unseres Rechtssystems: im Zweifel für den Angeklagten. Insofern war Kachelmanns Freilassung längst überfällig.

 

 

 

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